Seit Mittwoch sind vorgezogene Neuwahlen in Tschechien Gewissheit. Aus diesem aktuellen Anlass analysiert der Osteuropaexperte Univ. Prof. Dr. Dieter Segert für neuwal.com die aktuelle Situation im Land.

 

Univ.-Prof. Dr. Dieter Segert (* 1952)
studierte Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und machte sein Doktorat an der Lomonossow-Universität in Moskau. Nach der Berufung zum Professor im Jahr 1989 war er an zahlreichen Universitäten tätig, bis er schließlich im Jahr 2005 Univ.-Prof. für Transformationsprozesse in Mittel-, Südost- und Osteuropa am Institut für Politikwissenschaft in Wien wurde. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Transformation politischer Systeme in Ostmitteleuropa im Vergleich, Politische Geschichte und Erbe des europäischen Staatssozialismus sowie Parteienentwicklung in Osteuropa.

1991 entstand aus der Spaltung des Bürgerforums die ODS, lange Zeit die stärkste Partei der rechten Mitte. Václav Klaus war ihr Schöpfer, hatte allerdings 2008 die Partei wegen Differenzen über deren EU-freundlichen Kurs verlassen. Die ODS war seit ihrer Gründung viele Jahre tschechische Regierungspartei. Gegenwärtig liegt sie in Umfragen allerdings erst an vierter Stelle unter den politischen Parteien, hinter den Sozialdemokraten, der bürgerlichen Partei TOP 09 und den Kommunisten. Der Niedergang der Regierungspartei erfolgte nach einer Wahlperiode, in der sich eine Koalitionspartei („Öffentliche Angelegenheiten“) spaltete, die Regierung in drei Jahren 13 Ministerämter neu besetzen musste, und schließlich im Juni der Regierungschef (Petr Nečas) zurücktrat, weil seine Büroleiterin, mit der er privat liiert war, und wegen der er sich gerade hatte scheiden lassen, der Korruption angeklagt und verhaftet wurde. Er geriet dabei ebenfalls in den Verdacht des illegalen Handelns und der Bestechung.

Tschechien ist ein Land, das während der 1990er Jahre stets neben Ungarn als Vorreiter des Reformprozesses angesehen worden war. Es hatte (und hat bis heute im Unterschied zu Ungarn) die besten Plätze in den internationalen Rankings der Demokratie eingenommen. Bei „Nations in Transit“ wird es bei konsolidierte Demokratien an viertbester Stelle des Rankings geführt (nach Slowenien, Estland und Lettland). Diesen Platz hat Tschechien seit Beginn der Wertung 2004, damals noch nach Polen an fünfter Stelle. Im BTI (Bertelsmann Transformationsindex) 2012 liegt Tschechien sogar an der Spitze. Wirtschaftlich gesehen – gemessen am BSP pro Kopf – liegt Tschechien unter den neuen Mitgliedsstaaten der EU ebenfalls an zweiter Stelle. Wie lässt sich die politische Situation des Landes angesichts der gegenwärtigen Instabilität einschätzen? Irren sich die Demokratieindizes? Steckt es in einer tiefergehenden Vertrauenskrise?

Wenn man sich die Ergebnisse des letzten Eurobarometers (vom Mai 2013)  ansieht, dann kann man  generalisierend feststellen: die Tschechen sind nicht unzufriedener mit ihrem Leben als der Durchschnitt der EU-Bürger/innen, aber sie sind höchst unzufrieden mit ihren eigenen Politikern: den Parteien vertrauen nur 10 Prozent der Befragten, 89 Prozent misstrauen ihnen eher, das ist ein Spitzenwert unter den Ländern, die sich gegenwärtig nicht in einer akuten Wirtschaftskrise befinden. Der eigenen Regierung vertrauten 86 Prozent nicht. Gegenüber dem eigenen Parlament sind 88 Prozent eher misstrauisch.

Die Tschechen haben gerade ihren Präsidenten direkt gewählt. Miloš Zeman hatte die Sozialdemokratie 1996 zu einer wichtigen politischen Kraft gemacht. Er war zwischen 1998 und 2002 Ministerpräsident. Er verließ seine Partei im Streit 2007; dieses Detail verbindet ihn mit Václav Klaus. 2013 wurde Zeman der erste direkt gewählte Präsident Tschechiens. Er zählt zu den Politikern, die die rechtlichen und politischen  Regeln eher weit auslegen. Das war kürzlich sichtbar, als er eine Regierung mit einem ihm nahestehenden politischen Personal zu installieren versuchte. Als das nicht gelang, war der Weg zu vorgezogenen Neuwahlen frei, die die bisherigen Regierungsparteien eigentlich nicht wollten. Die Bevölkerung hingegen begrüßte das. Ob bei den Wahlen Ende Oktober 2013 mit der wahrscheinlichen Mitte-Links-Regierung nur ein neuer Wahlzyklus eingeleitet wird, oder aber die langjährige Entfremdung zwischen Bevölkerung und Politik fortgesetzt werden wird, ist noch nicht klar.