Das Wahlrecht zum Wiener Landtag und Gemeinderat hat im Frühjahr 2015 für gehörige Verstimmung in der rot-grünen Rathaus-Koalition gesorgt. Hauptstreitpunkt war die mehrheitsfördernde Komponente des Wahlsystems, die der SPÖ in der Regel einen Bonus von vier bis fünf Mandaten beschert.
Doch zunächst ein paar Fakten: Das Wiener Wahlrecht sieht ein zweistufiges Verfahren vor: Erst werden die Mandate in den 18 Wahlkreisen zugeteilt, danach werden basierend auf den nicht „verbrauchten“ Stimmen die Restmandate auf Landesebene vergeben. Allerdings sind durch einen Kniff im Zuteilungsverfahren die Mandate in den Wahlkreisen „billiger“: Pro Mandat braucht man im ersten Ermittlungsverfahren (Wahlkreis) weniger Stimmen als im zweiten (Reststimmen für ganz Wien).
Diese Regel bevorzugt große Parteien gegenüber kleinen, weil größere Parteien die Stimmenhürde für Wahlkreismandate leichter erreichen. (Trotzdem kann man das Wiener Wahlsystem nicht als Mehrheitswahlrecht bezeichnen. Es ist, wie von der Bundesverfassung vorgesehen, ein Verhältniswahlrecht – ergänzt um leicht mehrheitsfördernde Elemente.)

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Die Wiener Grünen hatten sich vor der Wahl 2010 notariell dazu verpflichtet, mit ÖVP und FPÖ gemeinsam eine Wahlrechtsreform durchzuführen, die diesen Bonus für größere Parteien eliminieren sollte. Die Grünen bissen allerdings bei der SPÖ mit dieser Forderung auf Granit und die Materie wurde letztlich in den koalitionsfreien Raum verschoben. Am Ende verhinderte allerdings die SPÖ die Abschaffung der mehrheitsfördernden Komponente durch Anheuern eines Mandatars, den die Grünen zuvor nicht mehr an wählbarer Stelle nominiert hatten. (Diese Episode zeigt übrigens, wie man sich durch zu frühe Listenerstellung verwundbar macht. Hätten die Grünen ihre Wahlliste für 2015 nach der Landtagssitzung zum Wahlrecht gewählt, wäre dieser Schachzug nicht möglich gewesen.)
Wie proportional ist das Wiener Wahlrecht nun? Die Abbildung unten zeigt die Stimmenanteile (x-Achse) und Mandate (y-Achse) bei Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen seit 1945. Wenn ein Punkt genau auf der 45-Grad-Linie liegt, entspricht der Anteil an Mandaten exakt jenem an Stimmen – es herrscht perfekte Proportionalität.

Wie deutlich zu sehen ist, ist der Zusammenhang zwischen Stimmen und Mandaten stark proportional. Abweichungen gibt es an den Extremen. Rechts oben liegen die Punkte über der 45-Grad-Linie, links unten liegen sie darunter. Große Parteien (hauptsächlich die SPÖ) bekommen also einen Mandatsbonus, während kleinere Parteien (KPÖ, Grüne, früher auch die FPÖ) weniger Mandate erhalten als ihr Stimmenanteil allein nahelegen würde. Im Schnitt hat die SPÖ seit 1945 so zwischen vier und fünf Sitze „extra“ erhalten.
Mathematisch lässt sich der Zusammenhang zwischen Stimmen und Mandaten in Wien so beschreiben (die Technik dafür nennt sich lineare Regression):
(@Nerds: Diese lineare Gleichung erklärt 99,7 % der Varianz im Mandatsanteil, hat also sehr hohe Erklärungskraft.)
Wenn die SPÖ also am Wahltag etwa bei 35 % landet, dann wären das wohl 37 Mandate (35 × 1,16 – 3,4 = 37.2). Für eine Partei mit zehn Prozent (das entspricht etwa der Position der ÖVP in jüngsten Umfragen) sagt dieses simple Modell acht Mandate vorher (10 × 1,16 – 3,4 = 8,2). Natürlich kann es geringfügige Abweichungen von diesen Vorhersagen geben. So wird der ÖVP-Mandatsstand am Ende wohlmöglich etwas höher liegen, weil die ÖVP in einigen Bezirken überdurchschnittlich stark ist und dort „billigere“ Wahlkreismandate erzielen kann.
Wie ist nun das Wiener Wahlsystem mit seiner leicht mehrheitsfördernden Komponente zu bewerten? Grundsätzlich muss bei jedem Wahlsystem eine Abwägung zwischen (zumindest) zwei Parametern vorgenommen werden:
- Proportionalität: Der Stimmenanteil entspricht möglichst genau dem Mandatsanteil
- Effektivität: Klare Verhältnisse, einfache Regierungsbildung und eindeutige Verantwortlichkeit gegenüber den Wählern
Beide Charakteristika sind erstrebenswert – bloß stehen sie zueinander im Widerspruch. Welchem man den Vorzug gibt, ist eine Frage der persönlichen Präferenz (oder im politischen Wettbewerb eine des größeren Nutzens für die eigene Partei).
In der Politikwissenschaft hat sich als Maß für die Proportionalität (oder eigentlich Disproportionalität) eines Wahlsystems der Gallagher-Index etabliert. Man subtrahiert erst für jede Partei den Mandatsanteil vom Stimmenanteil, quadriert diese Werte und summiert sie auf, dividiert diese Summe durch zwei und zieht dann die Wurzel. Das ergibt einen Wert, der von 0 (perfekte Proportionalität) bis 1 (perfekte Disproportionalität) reicht.
Die Abbildung unten zeigt den Gallagher-Index für die jeweils drei letzten Landtagswahlen in allen österreichischen Bundesländern. Wien hat eines der am wenigsten proportionalen Wahlsysteme aller österreichischen Bundesländer. Allerdings muss man bedenken, dass neben dem Zuteilungsverfahren noch ein anderer Faktor mitspielt: Wenn eine Partei knapp an der Sperrklausel scheitert, dann erzeugt das höhere Disproportionalität (höhere Prozenthürden führen daher zu einem höheren Gallagher-Index).

So erreichte etwa 2005 die FPÖ in der Steiermark 4,6 % der Stimmen, mangels Grundmandat aber keinen einzigen Sitz im Landtag. In Tirol scheiterten 2013 sowohl der Bürgerklub Tirol (4,8 %) als auch das Team Stronach (3,4 %) an der Fünf-Prozent-Hürde. Diese beiden Wahlen sind demnach auch die Fälle mit der größten Disproportionalität in der Grafik.
Während Wien im Bundesländervergleich also relativ geringe Proportionalität aufweist, rückt ein Blick auf Wahlsysteme in anderen Ländern diesen Eindruck zurecht. In Italien und Griechenland werden regelmäßig Gallagher-Index-Werte um 0,1 erreicht, in Großbritannien und Frankreich sogar Werte zwischen 0,15 und 0,25.
- Das Wiener Wahlrecht ist im Grunde stark proportional, mit einem leichten Bonus für große Parteien und leichter Benachteiligung kleiner Parteien.
- Ähnlich große Abweichungen von perfekter Proportionalität wie in Wien kommen bei Landtagswahlen in anderen Bundesländern immer wieder vor.
- Überhaupt ist Proportionalität nur eines von mehreren Kriterien für Wahlsysteme, das gegenüber anderen Kriterien abgewogen werden muss.
- In diesem Lichte erscheint die politische und mediale Aufregung um die Nicht-Reform des Wiener Wahlrechts im Frühjahr 2015 eher nicht proportional zum Sachverhalt.
Laurenz Ennser-Jedenastik
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