Immer wieder hört man in den letzten Monaten von Hetze und Gewalt gegen Homosexuelle in Russland. Doch was steht hinter den Überschriften? Wie schlimm ist die Lage wirklich? neuwal hat beim Grünen Politiker Marco Schreuder, der sich schon lange gegen die Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgenders engagiert, nachgefragt, da er die Vorgänge in Russland laufend beobachtet.

(* 27. April 1969 in Putten, Niederlande) ist seit 4. November 2011 Abgeordneter zum österreichischen Bundesrat. Nach einem Regie-Studium am Max-Reinhardt-Seminar engagierte sich Schreuder stark in der Schwulen- und Lesben-Szene und schrieb ab 1996 Artikel in lesbisch-schwulen Medien. 2001 stieg er als Referent für Menschenrechte und Antidiskriminierung im Grünen Klub im Rathaus ein. Nach seiner Tätigkeit als Fachreferent bei den Wiener Grünen wurde Schreuder Sprecher der Grünen Andersrum gewählt. Von 2005 bis 2010 war er Abgeordneter zum Wiener Landtag und Gemeinderat. Er war das erste offen schwul lebende Mitglied und setzt sich vor allem für die Rechte homosexueller und bisexueller Personen sowie Transgender ein und kämpft für die Erhaltung des Jüdischen Friedhofs Währing.
Quelle: Lebenslauf auf Wikipedia
Was mit einem lokalen Gesetz in St. Petersburg begann, gilt nunmehr für das ganze Land. Lesben und Schwulen ist es untersagt so genannte „Homo-Propaganda“ zu betreiben. Die Jagd auf Homosexuelle ist damit eröffnet.
Verängstigt schaut ein junger Mann in die Kamera. Umzingelt wird er von einigen jungen Männern, die ihn umarmen, anlächeln, auf ihn zureden und ihn peinlich und detailliert befragen bis er seinen Namen, seinen Arbeitgeber und seine Wohnadresse gesagt hat. Dann kündigt die Gruppe junger Rechtsextremer dem Mann an, dass sie ihn jetzt leider ins Wasser werfen müssen. Dieser bekreuzigt sich, dann wird er gepackt, zu einem See gebracht und ins Wasser getaucht. „Leider dürfen wir Lesben und Schwule nicht umbringen“, meint einer der Rechtsextremen in einem Interview.
Solche Videos werden zur Zeit auf russischen Webseiten veröffentlicht. Männer, die im Internet auf der Suche nach sexuellen Kontakten mit anderen Männern sind bekommen eine verlockende Antwort, ein Treffpunkt wird ausgemacht. Doch anstatt eines netten Abenteuers erotischer Art wartet eine Gruppe Rechtsextremer samt gezückten Kameras auf die Opfer. Die werden bloß gestellt, erniedrigt und öffentlich gedemütigt. Sie werden ins Wasser geworfen oder gezwungen Urin zu trinken. Zwischen Homosexualität und Pädophilie wird dabei nicht unterschieden. Für die Extremisten sind Schwule prinzipiell Pädophile.
- The Atlantic: In Russia, Violent Videos Show a Startling New Form of Gay Bullying
- BuzzFeed: Russians Are Using Social Media To Lure In And Publicly Humiliate Gay Men
„Homo-Propaganda“
Doch wie konnte Lesben und Schwule derart zum Freiwild werden? Begonnen hat alles in St. Petersburg. Im März 2012 beschloss der Gemeinderat, dass Lesben und Schwulen vor Minderjährigen keine „Homo-Propaganda“ betreiben dürfen. Dazu zählt Händchenhalten in der Öffentlichkeit, das Tragen von Regenbogen-Pins oder -Fähnchen oder ein schwuler Film in einem Kino.
Die Idee gefiel der Duma, dem russischen Parlament, so gut, dass im Juni dieses Jahres das St. Petersburger Gesetz landesweit adaptiert wurde und für die gesamte Föderation gilt. AktivistInnen, die dagegen protestierten wurden von einer noch größeren Gruppe Rechtsextremer niedergemacht und verprügelt. Die Polizei schaute zu und unternahm nichts. Mediale Begleitmusik gab es auch. Filmemacher und Oscar-Preisträger Nikita Michalkov meinte über gleichgeschlechtliche Ehen, dass diese die Filmindustrie ruinieren würde, weil unnatürliche Dinge zur Norm erklärt werden würden. Er griff auch die westliche Filmindustrie an, denn „es kann keine gesunden und energiereichen Filme in der Welt geben, wenn gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt werden“ denn letztere würden zur „Selbstzerstörung der Menschheit“ führen. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill verwendete am Tag zuvor genau sie selben Worte der „Selbstzerstörung“ und nannte Homosexualität ein „apokalyptisches Symptom“.
Die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche
Die Kirche ist in Russland sehr mächtig. Vladimir Putins Macht ist enorm von der Unterstützung der russisch-orthodoxen Kirche abhängig. Nahezu alle NGOs der lesbisch-schwulen Community machen diese Abhängigkeit auch für die ungeheure Gehässigkeit seitens der Politik verantwortlich. Eine Großteil der russischen Bevölkerung lehnt Homosexualität strikt ab. Die Folge ist aber nicht mehr Aufklärung und das Werben um Akzeptanz, sondern die Verstärkung des Hasses. Zwar ist Homosexualität in Russland nicht verboten (man darf straffrei Sex mit einer Person des gleichen Geschlechts haben), und seit 1999 gilt Homosexualität auch nicht mehr als „Geisteskrankheit“, aber eben durch Mittel wie das „Homo-Propaganda-Gesetz“ wird das gesellschaftliche Klima rauer. Die Videos der Rechtsextremen beweisen dies. Die Verfolgung Homosexueller hat Teile der Bevölkerung erreicht. Sie jagt mit.
Olympische Spiele, Öl und Gas
Wie schwer sich die westliche Welt mit der menschenrechtlichen Schieflage Russlands tut, zeigt sich in den Reaktionen von Europas Politikern. Wer auf eine scharfe Verurteilung hoffte und dachte, dies sei doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wird enttäuscht. Vereinzelte Kritik: Ja. Aber Russland unter Druck setzen? Nein. Dahinter steckt wohl die Abhängigkeit Europas von russischem Öl und Gas. Und Russland weiß das ganz genau.
Und das Internationale Olympische Comité? Immerhin wird in wenigen Monaten in Sotschi Winter-Olympia eröffnet. Das IOC blamierte sich dabei bis auf die Knochen. Vor einigen Tagen gab das IOC bekannt, dass das Anti-Homosexuellen-Gesetz für die Zeit der Olympischen Spiele ausgesetzt werden würde. Postwendend meinte der Sportminister Russland: Blödsinn, natürlich ist das Gesetz auch in dieser Zeit in Kraft.
Was dies für lesbische und schwule AthletInnen und Fans bedeutet bleibt unklar. Der offen schwule neuseeländische Eisschnellläufer Blake Skjellerup kündigte an in Sotschi einen Regenbogen-Pin zu tragen. Gut möglich, dass er genau so verhaftet wird wie neulich vier Niederländer. Diese hatten ein Interview mit einer Lesbe geführt. Daraufhin wurden sie verhaftet. Für Ausländer bedeutet dies: Bis zu 15 Tage Haft, etwa 2.300 Euro Strafe und eine sofortige Ausweisung.
Für die russischen Lesben und Schwulen bedeutet die Hetzjagd freilich ein Rückschritt um viele Jahrzehnte. Gab es vor kurzem noch selbstbewusst Film-Festivals, Lokale, Vereine, Webseiten und eine lesbisch-schwule Szene, gilt jetzt wieder vor allem eines: Angst. In Wolgograd wurde im Mai ein 23-Jähriger Mann zu Tode gefoltert. Grund: Er war schwul.
Foto: Screenshot/vk.com
Der Gastkommentar wurde durch Thomas Knapp koordiniert.
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